Manuel Audi und Florian Weihe über Minimum Viable Ecosystems, die zentrale Bedeutung von Purpose und die Frage, warum Technologie ein begünstigender Faktor für den Erfolg von Ökosystemen ist.
Ökosysteme entwickeln
Herr Audi, Herr Weihe, warum befassen sich immer mehr Unternehmen mit dem Konzept der Ökosysteme? Was ist neu daran und welche Potenziale sind erkennbar?
Florian Weihe: Viele Unternehmen haben erkannt, dass die Lebensrealitäten ihrer Kunden sich verändern. Die Welt wird immer vernetzter. Es gibt immer weniger hermetisch geschlossene Bereiche, es gibt immer mehr Schnittstellen. Entsprechend gibt es immer häufiger Konstellationen, in denen Strukturen, die durch harte Branchengrenzen gekennzeichnet sind, nicht mehr passen. Man muss sich also verstärkt damit auseinandersetzen, wo und wie man seine Kunden übermorgen erreicht. Auch für die Versicherungsindustrie, in der wir intensiv unterwegs sind, stellen sich diese Fragen. Die Unternehmen müssen dort präsent sein, wo die Lebensrealität ihrer Kunden stattfindet – in vernetzten, branchenübergreifenden Räumen. Sonst verliert man die heranwachsende Generation.
Für diese Räume hat sich der Begriff des Ökosystems etabliert, der jedoch häufig vage und diffus ist.
Florian Weihe: Das ist richtig. Heute fehlen oft die Kategorien, um sich mit Ökosystemen in der Tiefe auseinanderzusetzen und entsprechende Strategien zu definieren. Ist ein eigenes Ökosystem der Königsweg? Welche Rolle soll ich in einem Ökosystem übernehmen? Will ich der Orchestrator des Systems sein? Viele Unternehmen tendieren dazu, auf ein neues Paradigma mit ihrer gewohnten Perspektive zu blicken: Ich muss das Ökosystem aufbauen, ich muss es orchestrieren, ich muss es kontrollieren. Aber damit bewegt man sich bereits in die falsche Richtung. Denn ein Ökosystem kann man nicht bauen. Es entsteht. Man kann es säen, man kann es hegen und pflegen. Aber man kann es nicht am Reißbrett bauen oder kontrollieren – wer das versucht, verhindert die Entwicklung des Systems.
Manuel Audi: Wir verstehen Ökosysteme als Netzwerke von Akteuren, die ihre Leistungen integriert bereitstellen und dadurch ein neues Angebot für einen gemeinsamen Markt schaffen. Wesentlich dabei ist, dass der erzielte Kundennutzen durch Synergien und Netzwerkeffekte die Summe der einzelnen Leistungen übersteigt.
Auch deshalb ist es ein Fehler, Ökosysteme von der Technologie her zu denken. Ja, moderne Ökosystemen haben immer digitale Komponenten. Und die Vernetzung innerhalb von Ökosystemen wird durch Digitalisierung enorm unterstützt, die Technologie ist ein ganz zentraler Enabler. Bevor jedoch die Frage nach der Technologie gestellt wird, müssen zuerst betriebs- und marktwirtschaftliche Fragen beantwortet werden.
Viele Unternehmen haben eine technologische Plattform vor Augen, die Angebot und Nachfrage orchestriert, einen Marktplatz mit einem technologisch geprägten Koordinationsmechanismus. Das Wesentliche ist aber, dass Angebote geschaffen werden, die eine Nachfrage finden. Wenn man mit der Attitüde startet, man braucht erst eine technische Plattform, um die Player zu orchestrieren, ist der Ansatz tot. Dann entsteht ggf. ein Netzwerk, eine Infrastruktur als Marktplatz, was auch immer. Aber kein Ökosystem.
Im Interview
Dr. Manuel Audi
Florian Weihe
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Manuel Audi und Florian Weihe über Minimum Viable Ecosystems, die zentrale Bedeutung von Purpose und die Frage, warum Technologie ein begünstigender Faktor für den Erfolg von Ökosystemen ist.
Ökosysteme entwickeln
Herr Audi, Herr Weihe, warum befassen sich immer mehr Unternehmen mit dem Konzept der Ökosysteme? Was ist neu daran und welche Potenziale sind erkennbar?
Florian Weihe: Viele Unternehmen haben erkannt, dass die Lebensrealitäten ihrer Kunden sich verändern. Die Welt wird immer vernetzter. Es gibt immer weniger hermetisch geschlossene Bereiche, es gibt immer mehr Schnittstellen. Entsprechend gibt es immer häufiger Konstellationen, in denen Strukturen, die durch harte Branchengrenzen gekennzeichnet sind, nicht mehr passen. Man muss sich also verstärkt damit auseinandersetzen, wo und wie man seine Kunden übermorgen erreicht. Auch für die Versicherungsindustrie, in der wir intensiv unterwegs sind, stellen sich diese Fragen. Die Unternehmen müssen dort präsent sein, wo die Lebensrealität ihrer Kunden stattfindet – in vernetzten, branchenübergreifenden Räumen. Sonst verliert man die heranwachsende Generation.
Für diese Räume hat sich der Begriff des Ökosystems etabliert, der jedoch häufig vage und diffus ist.
Florian Weihe: Das ist richtig. Heute fehlen oft die Kategorien, um sich mit Ökosystemen in der Tiefe auseinanderzusetzen und entsprechende Strategien zu definieren. Ist ein eigenes Ökosystem der Königsweg? Welche Rolle soll ich in einem Ökosystem übernehmen? Will ich der Orchestrator des Systems sein? Viele Unternehmen tendieren dazu, auf ein neues Paradigma mit ihrer gewohnten Perspektive zu blicken: Ich muss das Ökosystem aufbauen, ich muss es orchestrieren, ich muss es kontrollieren. Aber damit bewegt man sich bereits in die falsche Richtung. Denn ein Ökosystem kann man nicht bauen. Es entsteht. Man kann es säen, man kann es hegen und pflegen. Aber man kann es nicht am Reisbrett bauen oder kontrollieren – wer das versucht, verhindert die Entwicklung des Systems.
Manuel Audi: Wir verstehen Ökosysteme als Netzwerke von Akteuren, die ihre Leistungen integriert bereitstellen und dadurch ein neues Angebot für einen gemeinsamen Markt schaffen. Wesentlich dabei ist, dass der erzielte Kundennutzen durch Synergien und Netzwerkeffekte die Summe der einzelnen Leistungen übersteigt.
Auch deshalb ist es ein Fehler, Ökosysteme von der Technologie her zu denken. Ja, moderne Ökosystemen haben immer digitale Komponenten. Und die Vernetzung innerhalb von Ökosystemen wird durch Digitalisierung enorm unterstützt, die Technologie ist ein ganz zentraler Enabler. Bevor jedoch die Frage nach der Technologie gestellt wird, müssen zuerst betriebs- und marktwirtschaftliche Fragen beantwortet werden.
Viele Unternehmen haben eine technologische Plattform vor Augen, die Angebot und Nachfrage orchestriert, einen Marktplatz mit einem technologisch geprägten Koordinationsmechanismus. Das Wesentliche ist aber, dass Angebote geschaffen werden, die eine Nachfrage finden. Wenn man mit der Attitüde startet, man braucht erst eine technische Plattform, um die Player zu orchestrieren, ist der Ansatz tot. Dann entsteht ggf. ein Netzwerk, eine Infrastruktur als Marktplatz, was auch immer. Aber kein Ökosystem.
„Unternehmen müssen dort präsent sein, wo die Lebensrealität ihrer Kunden stattfindet.“
Präsent zu sein in der Lebensrealität, im Alltag der Kunden, ist allerdings nicht für jede Branche selbstverständlich.
Manuel Audi: Das ist sicher richtig. Auch die Versicherung ist in der Regel, bis auf Kranken, nicht alltagsrelevant, um beim Beispiel zu bleiben. Und deshalb halte ich es nicht für die smarteste Strategie, dass – salopp ausgedrückt – durch einen großen Aufschlag, eine Kompetenz- und Materialschlacht, erzwingen zu wollen. Wir empfehlen, das Thema klein anzugehen. Und im Zweifelsfall damit mehr zu erreichen als mit dem ganz großen Spiel.
Genau darauf zielt die Idee des Minimum Viable Ecosystems ab, kurz MVE. Netzwerke sind immer komplex. Ein MVE ist ein Ökosystem geringer Komplexität, das aber gleichzeitig alle notwendigen Rahmenbedingungen erfüllt, um nachhaltig zu wachsen.
„Technologie ist ein zentraler Enabler. Bevor jedoch die Frage nach der Technologie gestellt wird, müssen zuerst betriebs- und marktwirtschaftliche Fragen beantwortet werden.“
Minimum Viable Ecosystems schaffen
Welche Rahmenbedingungen sind das und was kennzeichnet generell ein Minimum Viable Ecosystem?
Florian Weihe: Die Rahmenbedingungen sind Kompatibilität, Offenheit, Marktpotenzial und Vernetztheit, so dass sich das System weiterentwickeln und zu einem großen und vitalen Ökosystem werden kann. Getragen von den Rahmenbedingungen bildet sich eine Dreierkonstellation mit zwei Anbietern und dem Kunden heraus, in der für den Kunden eine neue Value Proposition kreiert wird.
Was bedeutet das im Einzelnen? Die eingebrachten Leistungen müssen anschlussfähig sein und sich zu sinnvollen neuen Lösungen kombinieren lassen. Also wann macht die Bündelung eines Versicherungsprodukts mit einem Zusatzservice Sinn, beispielsweise. Auch braucht es ein gewisses Marktpotenzial, damit das System wachsen kann.
Die Offenheit ist sowohl eine technologische Frage als auch eine des Mindsets der handelnden Unternehmen und Personen. Ökosysteme sind modellierbar, die wissenschaftliche Basis liefert die Graphentheorie. Damit lassen sich u.a. vernetzte Business Cases simulieren, die beispielsweise das Hinzukommen weiterer Player und deren Einfluss reflektieren. Auf diese Weise fließen nicht nur direkte, sondern auch indirekte Netzwerkeffekte in die Ergebnisse mit ein.
„Wichtiger als die Ausprägung der Rollen im MVE ist die Frage, ob ein tragfähiger Business Case definiert werden kann.“
Stellt sich bereits beim MVE die Frage nach den Rollen?
Manuel Audi: Die Frage wird oft gestellt, aber sie ist in der Anfangsphase aus unserer Sicht eher kontraproduktiv. Es sollte eher darum gehen bereit zu sein, als Initiator und Impulsgeber den ersten Schritt zu tun und die passenden Verbündeten zu finden. Wie sich die Rollen weiter ausprägen, das wird sich zeigen. Das hängt im Wesentlichen von vielen Faktoren ab, etwa der Investitionsbereitschaft, der Reputation und den eingebrachten Assets. Wichtiger als die Frage nach den Rollen ist, ob ein tragfähiger Business Case definiert werden kann. Ein MVE muss potenziell für alle Beteiligte attraktiv bzw. lukrativ sein, sonst hat es keinen Sinn.
Wie kann man sich die Genese eines solchen Systems konkret vorstellen? Wie entwickelt sich ein solcher Prozess?
Florian Weihe: Man kann das am Beispiel einer Tierhalterhaftpflichtversicherung durchspielen. Nehmen wir einmal an, das ist das Produkt, welches ein Versicherer in das neue Ökosystem einbringen will. Da eröffnet sich ein interessantes Potenzial, denn Produkte und Zielgruppen im Bereich der Hundehaltung sind sehr kompatibel, es existiert ein immenses Marktpotenzial und man kann von einer prinzipiellen Offenheit der Akteure ausgehen.
Vor allem aber bildet das Tierwohl den gemeinsamen Purpose, den alle Anbieter teilen. Und dieser Purpose definiert auch eine nicht verrückbare Grenze für die Mitwirkung in diesem Ökosystem: Wer diese Einstellung nicht teilt und einfach „irgendwas mit Hunden“ macht, ist nicht kompatibel.
Eine Vernetzung ist oft noch nicht gegeben, zumindest nicht technologisch. Aber es gibt beispielsweise eine Hunde-App, über die man Giftködermeldungen bekommt, oder Tierärzte und Hundewiesen in der Nähe findet. Mit der Versicherung, der Hunde-App und den Kunden hat man bereits die notwendigen Elemente für ein MVE. Die Versicherung kann innerhalb der App platziert werden. Im nächsten Schritt könnte ein GPS-Halsband hinzukommen. Hier könnte der Versicherer eine Annexproduktvereinbarung treffen. Und dann könnte ein vollkommen branchenfremder Spieler in das Ökosystem eintreten – zum Beispiel eine Hotelkette, die sich als besonders hundefreundlich positionieren will und entsprechend über die App gefunden wird. Und dieses Hotel könnte wiederum eine Vereinbarung mit einem Hundefutterhersteller treffen. Inzwischen sind wir in einem vitalen Ökosystem und der Initiator, die Versicherung, befindet sich plötzlich deutlich näher an der Lebensrealität und an den Werten ihrer Kunden und ist Profiteuer in einem Netzwerk von Multiplikatoren.
„Purpose orchestriert ein dezentrales Ökosystem als „unsichtbare Hand“.“
Purpose im MVE
In diesem Beispiel spielt der Purpose eine zentrale Bedeutung. Aber wie entsteht er? Kann der Initiator ihn einfach setzen?
Manuel Audi: Das was Sie beschreiben, funktioniert in gesteuerten, hierarchischen Netzwerken. In einem Ökosystem ohne ausgeprägten dominanten Akteur dient dieser Purpose als Kit, als gemeinsame Basis, als Governance, oft unausgesprochen. Es geht also eher darum, diesen zu erkennen und weniger den Purpose deterministisch festzusetzen. Purpose ist das regulierende Element in einem dezentralen Ökosystem. Wenn man so will, wird das System durch den Purpose als „unsichtbare Hand“ orchestriert.
Sind in einem MVE auch kompetitive Player denkbar? Etwa zwei Versicherungen, die den gleichen Purpose teilen?
Manuel Audi: Zumindest in der Startphase macht die Integration von Wettbewerbern wenig Sinn. Mathematisch gesprochen, muss jeder, der neu hinzukommt, den Gesamtwert des Ökosystems steigern und nicht reduzieren. Wettbewerbsangebote erzeugen einen Kannibalisierungseffekt, der aus der Perspektive des Gesamtsystems in der Startphase eher dysfunktional ist. Die Angebote sollten komplementär sein und sich gegenseitig befruchten, Neues erzeugen.
Zwei Versicherer mit zwei ähnlichen Versicherungsprodukten als Akteure in einem MVE erachten wir daher als nicht sinnvoll. Versicherer mit einem komplementären Angebot, etwa einer Kombination aus Leben-, Kranken-, und Sachversicherung, auf eine bestimmte Zielgruppe und einem bestimmten Purpose auszurichten, kann jedoch sinnvoll sein. In späteren Entwicklungsstufen kann auch der Wettbewerb durchaus mit ähnlichen Leistungen einbezogen werden – denn ein besseres Alternativangebot trägt dazu bei, dass das Ökosystem kompetitiv bleibt.
Im Interview
Dr. Manuel Audi
Florian Weihe
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