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„Ressourcen und Verantwortung
müssen dem Wissen folgen.“

Michael Kandel über verteilte Innovationsprozesse, die Dezentralisierung von Entscheidungskompetenz und die Frage, wie Stabilität im Wandel aufrechterhalten werden kann.

Orte der Innovation

 

Herr Kandel, gibt es einen Ort der Innovation im Unternehmen?

Innovationen entstehen dort, wo das Wissen ist und die Ideen reifen. Und nicht exklusiv in den Innovationsabteilungen. Dort beschäftigt man sich mit Innovationen sehr fokussiert. Es braucht aber einen anderen Horizont, einen Blick von außen, die Sensibilität für zufällig entstehende Ideen. Für Organisationen heißt das zu verstehen, wo die inhaltliche Kompetenz steckt und wo auf der anderen Seite Entscheidungskompetenz, Verantwortung, Budgets allokiert werden. Wenn es immer die gleiche Stelle ist, die Projekte und Budgets freigibt, müsste da eine holistische Kompetenz vorhanden sein, um Trends und Ideen angemessen beurteilen zu können. Aber in der heutigen Welt eskalierender Komplexität verfügt keine Person und kein Gremium über diese Kompetenz. Und deshalb müssen Ressourcen und Verantwortung immer stärker dem Wissen und den Ideen in ihren unterschiedlichen Formen und Ausprägungen folgen.

Auch an die Grenzen der eigenen Organisation, an die Schnittstellen zum Netzwerk?

Ja. Wenn wir künftig beispielsweise nicht mehr Autos, Bahntickets, Treibstoff und Versicherungen kaufen, sondern branchenübergreifende Mobilitätslösungen aus verschiedensten Komponenten. In solchen Ökosystemen stellt sich die Frage nach den Orten der Innovation – und damit auch nach der Verlagerung von Ressourcen und Verantwortung – nochmals verschärft. Und wahrscheinlich erfordert dieser Prozess noch mehr Vertrauen. Aber die Prämissen der Organisationsgestaltung sind letztlich dieselben wie in einem komplexen Unternehmen.

Welche Innovationshürden sind klassisch und wie lassen sich diese überwinden?

Innovationen, die innerhalb einer spezifischen funktionalen Kompetenz entstehen – etwa bei einer Abteilungsleitung – sind in der Regel sehr stark fokussiert auf das Mindset, Verständnis und Wissen dieser Person. Sie hat die Ressourcen, die Verantwortung und die Entscheidungsvollmacht.

Ein alternatives Model ist ein kompetenzbasierter Ansatz. Hier wird Experten eine gewisse Verantwortung übertragen, so dass Entscheidungen nicht mehr ausschließlich auf den hierarchischen Knoten zustande kommen. Diese verteilten Kompetenzen und Product Ownerships beziehen sich immer auf das jeweils aktuelle Thema, das aktuelle Projekt. Sobald neue Themen entstehen, werden die Kompetenzen neu verteilt, immer basierend auf der Frage, wer das Thema inhaltlich am besten evaluieren und vorantreiben kann.


Im Interview

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„Ein kompetenzbasierter Ansatz bündelt die Innovationskraft der Experten, die sich am besten für die Aufgabe eignen.“

Wenn man aber auf die hierarchische Innovationssteuerung verzichtet – wie lässt sich dann verhindern, dass Fehlentwicklungen stattfinden und Ressourcen verschwendet werden?

Eine regulierende Funktion ist in der Tat notwendig. Das Problem liegt jedoch darin, dass ein Unternehmen heute selbst kaum die Relevanz einer Innovation beurteilen kann. Es braucht dafür eine möglichst breite Resonanz, am besten das schnelle und konkrete Kundenfeedback. Es ist deshalb sinnvoll, die Idee direkt mit einem Kunden zu testen oder sogar gemeinsam zu erarbeiten. So kann man die Lösungsräume für tatsächliche Probleme genau definieren, aber auch eine radikalere Innovation einem Ideen- oder Konzepttest aussetzen. Danach geht es nur noch um die Ausprägung der Lösung.

Man muss natürlich den Mut haben, ohne eine fertige Lösung zum Kunden zu gehen, zu sagen, „Ich habe für Dich keine fertige Lösung. Aber ich habe gewisse Erfahrungen, Rahmenbedingungen und Kompetenzen und verstehe bestimmte Wirkungsweisen. Diese können wir gemeinsam für Dein System adaptieren.“ Meiner Erfahrung nach verstehen Kunden das. Sie wissen auch, dass Märkte und Technologien heute so dynamisch sind, dass sich die Perspektive verändert. Man kann zwar eine ziemliche Sicherheit im Hinblick auf zentrale Kompetenzen und Assets haben. Aber man muss diese auch immer wieder zu Lösungen kombinieren, die für beide Seiten neu sind.

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„Man muss den Mut haben, ohne eine fertige Lösung zum Kunden zu gehen.“

Innovationsstärke erlangen

Wie gestaltet man in diesem sehr fluiden Umfeld eine Organisation, die einen gewissen Bestand hat?

Ein zentrales Prinzip ist die Ausrichtung auf die Wertschöpfung, den Value Stream. Gerade wenn man in disruptiven, sich ständig veränderten Situationen agiert, braucht man eine End-to-End-Sicht und auch eine End-to-End-Verantwortung. Denn das ist der Kern eines Unternehmens, der Grund, warum es ein Unternehmen gibt. Wird die Wertschöpfung noch nachgefragt? Sind neue Wertschöpfungsprozesse erforderlich? Diese Fragen haben dann einen unmittelbaren Bezug zur Struktur und Kultur der Organisation und zu der notwendigen Innovationsstärke. Denn es kann ja auch sein, dass man ein Geschäftsmodell hat, das vermutlich auch die nächsten zwanzig Jahre funktioniert. Dann legt man beim Organisationsdesign den Fokus sehr stark auf die Effizienz dieser Wertschöpfung. Auf diese Weise lassen sich Strukturen aufbauen, die auch längerfristig tragfähig sind.

Das sind die formalen Kriterien. Gibt es auch kulturelle?

Es muss ein hohes Vertrauen in die Mannschaft geben. Zudem sind eine verteilte Kompetenz und Entscheidungsbefugnis wichtig, fachlich und budgetär, die sich natürlich im Rahmen gut geplanter, strukturierter Prozesse bewegen. Das macht eine Organisation schneller, weil bei Entscheidungsprozessen hierarchische Bottlenecks verhindert werden.

Die Herausforderung liegt darin, mit der Differenz zwischen der Responsibility und der Accountibility richtig umzugehen. Denn es ist eine Sache, die operative Umsetzungsverantwortung zu übernehmen und eine ganz andere, für die Entscheidung und das Ergebnis verantwortlich zu sein. Die moderne Welt kennt im Prinzip nur die Eskalation als Bewegungskanal in Organisationen. Das ist der Modus, in dem Entscheidungen getroffen werden. Deswegen kann man heute die Entscheidungskompetenz nicht in der Breite voraussetzen. Man kann die Entscheidungsverantwortung nicht den Fachexperten einfach vor die Füße legen: „Ist jetzt Deine Entscheidung. Mach mal.“ Es reicht nicht, wenn jemand die fachliche Qualifikation und das Mandat hat – wir müssen die Entscheidungsfähigkeiten und Entscheidungskompetenzen gezielt trainieren, um sowohl die Qualität der Entscheidungen zu sichern als auch eine Demotivation der Mitarbeiter zu verhindern, wenn sie auch den Druck spüren, der unweigerlich mit der Entscheidungskompetenz kommt.

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„Responsibility und Accountibility sollten stets miteinander verbunden sein“

Verantwortung teilen

Wie herausfordernd ist dieser Prozess für das Management, das Entscheidungskompetenzen abgeben soll?

Man muss natürlich auch dem Management eine gewisse Entwicklungsphase zugestehen, damit es lernen kann, Verantwortung wirklich abzugeben. Das ist in hierarchischen Organisationen brisant, denn auf der nächsten Hierarchieebene ist man ja trotzdem verantwortlich. Da sind Ausprobieren und Austrieren erforderlich, damit irgendwann der eine sich befähigt fühlt, Entscheidungen zu treffen und der andere mit gutem Wissen und Gewissen etwas abgeben kann. Es muss ein sehr transparenter Prozess sein, in dem beide Seiten das Dilemma klar verstehen und schrittweise auflösen. Denn nichts ist schlimmer, als jemandem die Verantwortung zu geben und zwei Tage später anzurufen und nach Checkliste die Entscheidungskriterien abzufragen.

Was aber, wenn jemand in dieser neuen Welt verteilter Verantwortung nicht mitspielen will? Wenn die Trägheit der Strukturen so hoch ist, dass Veränderungsinitiativen nicht greifen können?

Das ist organisatorische Realität. Jemandem, der einen anderen Lebensentwurf hat und seit Jahrzehnten eine klassische Auffassung von seiner Arbeit, kann man nicht einfach mitteilen, dass er jetzt seinen Job und die Rahmenbedingungen neu denken soll. Viele wollen das nicht – was aus individueller Perspektive auch legitim ist. Das gilt übrigens auch für Manager, die nicht in dieser neuen Welt agieren können oder wollen.

Das Problem ist nur, dass dieser Wandel notwendig ist, um als Organisation schnell genug zu bleiben. Viele Großunternehmen erkennen das. Sie wissen auch, dass sie den Wandel in der Fläche nicht in angemessener Geschwindigkeit realisieren können. Unter anderem deswegen werden dann innovative Einheiten ausgegründet, die sich oft hervorragend entwickeln. Aber wenn die Themen skaliert werden müssen, kommt man an die Sollbruchstelle der Gesamtorganisation, die sich als große Hürde erweisen kann.

 

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Michael Kandel

michael.kandel@m3maco.com

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