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„Es geht nicht darum,

sich auf die Pandemie 2.0 vorzubereiten“

Interview mit Irmgard Sturm,

Abteilungsleiterin Process & Data Analytics bei msg

„Es geht nicht darum, sich auf die Pandemie 2.0 vorzubereiten“

Interview mit Irmgard Sturm,

Abteilungsleiterin Process & Data Analytics bei msg

Angesichts der weltweiten Lieferengpässe der letzten Jahre gewinnt das Supply-Chain-Risk-Management zunehmend an strategischer Bedeutung. Welche Rolle künstliche Intelligenz bei der Identifikation von Frühindikatoren spielt und warum es nicht nur auf Schnelligkeit ankommt, beschreibt Irmgard Sturm, Abteilungsleiterin Process & Data Analytics bei msg.

Wir haben in den vergangenen drei Jahren verschiedene Krisen erlebt, die sich massiv auf die globalen Lieferketten ausgewirkt haben. Hätten man diese Ereignisse nicht voraussehen können? Warum waren die Unternehmen scheinbar so schlecht darauf vorbereitet?

Irmgard Sturm: Störungen in der Lieferkette sind an sich nichts Ungewöhnliches, sondern ein immer wiederkehrendes Problem. In der Regel nimmt der Verbraucher davon jedoch wenig Notiz. Zumal Unternehmen, deren Lieferketten bereits in der Vergangenheit größeren Risiken ausgesetzt waren, häufig ein aktives Supply-Chain-Risk-Management betreiben, um die Auswirkungen solcher externen Schocks abzufedern. Was wir während der Pandemie erlebt haben, ist, dass unsere globalisierten Lieferketten einfach durch die schiere Menge an gleichzeitigen Störungen überall auf der Welt so stark betroffen waren, dass sich das bis zu fast jedem Verbraucher auswirkte. Hätte man das vorhersehen können? In der gesamten Komplexität und mit allen Auswirkungen sicherlich nicht. Eine entscheidende Frage ist aber, wie erkennt man für seinen unternehmensrelevanten Ausschnitt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Risiko eintritt, welche möglichen Auswirkungen es hat und was man bereit sein sollte, für eine Risikovermeidung zu investieren?

Was sollten die Unternehmen also tun?

Irmgard Sturm: In der Vergangenheit haben die Unternehmen ihre Lieferketten sehr stark in Richtung Effizienz optimiert, indem sie z.B. ihre Lagerhaltung minimiert oder ihre Lieferbeziehungen konsolidiert haben. Dies geschah aus Effizienzgründen und weil die Wahrscheinlichkeit dieser globalen Risiken als gering eingeschätzt wurde. Viele Unternehmen versuchen nun, wieder in Richtung Resilienz zu agieren, indem sie beispielsweise eine Multi-Supplier-Strategie auf- oder ausbauen oder Teile der Wertschöpfung ins eigene Unternehmen oder nach Europa zurückholen. Das sind Reaktionen, die den Unternehmen akut durchaus nützen, die aber natürlich in der Vergangenheit aus guten Gründen anders entschieden wurden. Insofern ist es schwierig, kurzfristig von der bisherigen Effizienz- auf eine Resilienzstrategie umzuschwenken. Insgesamt ist jede dieser Strategien für sich kritisch zu betrachten. Wer als Unternehmen optimal effizient aufgestellt ist, hat bei jeder Disruption ein Problem. Und wer optimal resilient aufgestellt ist, wird wahrscheinlich auf Dauer nicht wettbewerbsfähig sein.

Wie kann ein Ausweg aus diesem Dilemma aussehen?

Irmgard Sturm: Die Idee ist, die relevanten Risiken, die das eigene Geschäft tatsächlich beeinflussen können, zu identifizieren und dafür Frühindikatoren zu finden, um möglichst einen Tag – eine Woche – einen Monat früher als der Wettbewerb und mit möglichst mehr Handlungsoptionen reagieren zu können. Damit sollen Unternehmen in die Lage versetzt werden, proaktiv Maßnahmen zu entwickeln und nicht erst zu reagieren, wenn das Risiko bereits eingetreten ist. Darüber hinaus sollte es den Unternehmen möglich sein, vorab zu entscheiden, was sie bereit sind, zu investieren, um auf diese Risiken vorbereitet zu sein. Dies kann zum Beispiel anhand historischer Daten überprüft werden: Was hat in der Vergangenheit den Lieferkettenschock ausgelöst, welche Indikatoren gab es und welche Auswirkungen hatte der Schock? Diesen Fragen systematisch nachzugehen und sie zu einem wiederkehrenden Prozess zu machen, ist die Idee unserer „Supply-Chain-Shock-Prevention“. Resilienz vorbereiten und Effizienz sichern, das ist das Ziel.

Wie funktioniert diese Shock Prevention in der Praxis?

Irmgard Sturm: Shock Prevention beschreibt einen Methodenbaukasten, dessen Bausteine einzeln oder verzahnt eingesetzt werden können. Im Kern geht es darum, Bedrohungen systematisch und möglichst mit Hilfe von KI frühzeitig zu erkennen, ihre Auswirkungen abzuschätzen und Handlungsalternativen abzuwägen bzw. vorzubereiten. Die Idee des Methodenbaukastens ist es, das Risikomanagement der Supply Chain individuell, aber systematisch als wiederkehrenden Prozess zu verstehen. Dazu greifen die einzelnen Methodenbausteine in einer logischen Abfolge ineinander. Dies beginnt beim Bedarfs-Forecasting, geht über die Identifikation, Bewertung und Analyse von Schocks, die Simulation möglicher Auswirkungen und Optimierungsmöglichkeiten bis hin zur Erstellung eines Präventionsplans. Am Beispiel der Bedrohungsanalyse eines Rohstoffes, z.B. Kakao, lässt sich dies sehr gut, wenn auch stark vereinfacht, darstellen. Zum einen ist Kakao als Naturprodukt starken Umwelteinflüssen und damit dem Risiko von Ernteausfällen ausgesetzt, zum anderen wird er nur in wenigen Regionen angebaut, was das Risiko von Einflüssen wie Streiks, politischen oder sozialen Unruhen etc. erhöht. Beides Risiken, die sich potenziell auf die Verfügbarkeit oder die Preise auswirken können. Um hier ein präventives Risikomanagement zu betreiben, würde man zunächst untersuchen, ob es in den letzten Jahren wiederkehrende Ereignisse gab, die sich auf den Preis ausgewirkt haben. Diese Ereignisse können z.B. nach politischen, ökologischen oder ökonomischen Einflussfaktoren kategorisiert werden. Für jede dieser Kategorien kann dann mit Hilfe von KI anhand historischer Daten simuliert werden, wie sich zukünftige Ereignisse voraussichtlich auf den Preis auswirken werden. Dies wiederum ermöglicht es Unternehmen, Frühwarnindikatoren und Schwellenwerte zu definieren, ab denen bestimmte Maßnahmen ergriffen werden müssen.

Inwiefern hat der Einsatz von Künstlicher Intelligenz die Möglichkeiten solcher Simulationen verändert?

Irmgard Sturm: KI ermöglicht es, große Datenmengen objektiv, strukturiert und automatisiert zu analysieren. Damit wird nicht nur die Arbeit des Menschen erleichtert, sondern auch die Qualität durch Objektivität erhöht und durch standardisierte Verfahren nachvollziehbar gemacht. So hat KI die Analyse-, Prognose- und Simulationsmöglichkeiten massiv erweitert, indem immer mehr Daten in die Risikoanalyse einfließen und effizient verarbeitet werden können – und dadurch neue Zusammenhänge sichtbar werden. Im Prinzip kann alles, wofür es eine Datenbasis gibt, in solche Prognosen oder Simulationen einbezogen werden. Die Schwierigkeit besteht darin, valide Daten für das jeweilige Szenario zu finden. Die transparente Supply Chain ist – rein datentechnisch gesehen – noch ein Traum. Man muss sich also sukzessive aus der Sicht des Unternehmens in die Supply Chain hineinbegeben und schauen, welche Daten überhaupt vorhanden sind, welche externen Datenquellen einbezogen werden können und wie diese Daten sinnvoll miteinander verknüpft werden können.

Auch wenn der Zugang zu Daten teilweise limitiert ist. Die Zahl der möglichen Fragestellungen, die man im Rahmen solcher Simulationen bearbeiten kann, ist schier unbegrenzt. Wo sollte man sinnvollerweise starten?

Irmgard Sturm: Das ist eine sehr gute Frage, die jedes Unternehmen für sich beantworten muss. Die Supply-Chain-Shock-Prevention-Methode bietet hier einen Ansatzpunkt: das Bedarfs-Forecasting. Sofern nicht bereits vorhanden, kann KI eingesetzt werden, um auf Basis unternehmensinterner Daten in Kombination mit Marktdaten den zukünftigen Bedarf zu identifizieren. Denn eine Shock Prevention muss in die Zukunft schauen und daher die relevanten zukünftigen Bedarfe kennen. Vielleicht an dieser Stelle noch ein paar Worte zur Methodik selbst: Die Supply-Chain-Shock-Prevention stellt einen Methodenbaukasten mit ineinandergreifenden Analyseschritten zur Verfügung, der auf bewährten und innovativen KI-Methoden basiert. Sie ist damit einerseits ein Leitfaden zur strukturierten Analyse möglicher Supply-Chain-Shocks und andererseits im Ergebnis ein automatisierbarer, KI-gestützter Baukasten zur Überwachung von Supply-Chain-Risiken.

Nehmen wir zum Beispiel die Automobilindustrie, wo das Fehlen von elektronischen Bauteilen das große Thema während der Pandemie war. Aber auch dort stellt sich jetzt die Frage: Wenn ich in Zukunft auf Elektromobilität umsteigen will, was sind dann meine kritischen Elemente? Vielleicht sind es noch die Chips, vielleicht sind es die Batterien oder Komponenten davon, die hier einen Engpass darstellen. Und wahrscheinlich werde ich viel mehr als ein kritisches Element in meiner Lieferkette identifizieren. Vielleicht sind es in der Automobilindustrie Tausende von kritischen Elementen. Das ist mit noch so kompetenten und gut ausgestatteten Organisationseinheiten ohne innovative Methoden und strukturiertes Vorgehen nicht mehr zu überwachen.

Lässt sich so etwas aus dem einzelnen Unternehmen heraus überhaupt sinnvoll aufsetzen oder muss man Shock Prevention nicht zwangsläufig ökosystemisch denken?

Irmgard Sturm: Ökosysteme sind noch einmal ein ganz eigenes Thema. Die Bemühungen sind vielfältig und zum Teil vielversprechend. Wenn man bedenkt, dass nach dem direkten Lieferanten (Tier 1) die Transparenz der Supply Chain für Unternehmen oft deutlich abnimmt, sind darüberhinausgehende Kooperationen unerlässlich. Hier gibt es bereits Bestrebungen von Plattformen, die sich genau diesem Thema annehmen, um mehr Transparenz zu schaffen und eine höhere Datenqualität zu erreichen. Denn je mehr verwertbare Daten zur Verfügung stehen und je besser die Datenqualität ist, desto aussagekräftiger sind die Möglichkeiten der Shock Prevention.

Aber wenn alle gleichermaßen profitieren, ist das nicht ein Nullsummenspiel? Geht am Ende nicht darum, schneller zu sein als die Konkurrenz?

Irmgard Sturm: Natürlich geht es auch um Schnelligkeit. Zunächst kann das Verfahren dazu dienen, dem Kunden einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Selbst wenn irgendwann alle Unternehmen der Welt oder einer Branche unsere Shock Prevention nutzen, sind die gefundenen Handlungsoptionen immer noch vielfältig und haben koordinativen Charakter. Es geht vor allem darum, Handlungsoptionen zu haben. Wir haben natürlich eine Konkurrenzsituation, aber wir haben auch mehrere Handlungsoptionen, die man zum Teil gut vorbereiten kann. Und nicht jedes Unternehmen handelt gleich. Während Unternehmen A entscheidet: ‚Ich kann es mir leisten, mehr Lagerhaltung zu betreiben und bin deshalb auf diese Knappheit vorbereitet‘, wird Unternehmen B vielleicht sagen: ‚Lagerhaltung ist für mich keine Option, weil es preislich einfach nicht mehr attraktiv ist. Ich würde eher über eine Multi-Vendor-Strategie nachdenken. Bei knappen Ressourcen können Konkurrenzsituationen jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Wenn zwei Unternehmen das gleiche Produkt wollen, ist natürlich derjenige der Glücklichere, der schneller war. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass alle gefundenen Handlungsoptionen zum gleichen Ergebnis führen, wie im Beispiel der Autobahn, ist eher gering. Dafür ist die Sache zu komplex.

Auch wenn sich nicht alle Marktteilnehmer vollkommen gleich verhalten – muss man bei der Shock Prevention nicht immer auch das Verhalten der Wettbewerber mit einkalkulieren?  

Irmgard Sturm: In engen Branchen kann das natürlich relevant werden. Noch einmal das Beispiel Kakao: Es gibt nur wenige Anbaugebiete für Kakao. Wenn zum Beispiel die Elfenbeinküste nicht mehr liefern würde, hätten alle Schokoladenhersteller ein Problem. Wenn ich das einen Monat vorher weiß und meine Lager wieder auffüllen kann, habe ich einen Wettbewerbsvorteil. Oder ich habe dieses Risiko hoch eingeschätzt, will oder kann aber keine Lager aufbauen, dann ist es gut, sich Alternativen überlegt zu haben. Um bei diesem einfachen Beispiel zu bleiben, dann produzieren wir jetzt mehr weiße Schokolade und haben dafür auch schon eine Marketingstrategie in der Tasche. Das heißt, eigentlich ist das Thema Shock Prevention eher eine Options-Initiative als ein reiner Wettlauf. Anders ausgedrückt: Wenn sich jetzt alle Unternehmen auf die Pandemie 2.0 vorbereiten, dann machen alle das Gleiche. Das ist aber nicht die Idee. Vielmehr geht es darum, Organisationen und ihre Lieferketten kreativer, agiler und unternehmensspezifischer zwischen Effizienz und Resilienz auszurichten.

 

Im Interview

 sturm irmgard msg

Irmgard Sturm

irmgard.sturm@msg.group

"Für Unternehmen ist es schwierig, kurzfristig von der bisherigen Effizienz- auf eine Resilienzstrategie umzuschwenken."

"KI hat die Analyse-, Prognose- und Simulationsmöglichkeiten massiv erweitert, indem immer mehr Daten in die Risikoanalyse einfließen und effizient verarbeitet werden können."

"Es geht vor allem darum, Handlungsoptionen zu haben."

KeyVisual Folge 10 msg Podcast

Mehr zum Thema Supply Chain Shock erfahren Sie in der Folge „Supply Chain Precognition“ von radikal digital – dem msg-Podcast.

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