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Der Digitale Zwilling kann in Zukunft
auch der Schlüssel für nachhaltigere
Entscheidungen im Alltag sein
 

Interview mit Dr. Wolfgang Bock, Abteilungsleiter Industry 4.0
Transformation & Sustainability Consumer Products

Der Digitale Zwilling kann in Zukunft
auch der Schlüssel für nachhaltigere
Entscheidungen im Alltag sein

 

Interview mit Wolfgang Bock, Abteilungsleiter Industry 4.0 Transformation & Sustainability Consumer Products

Welche Rolle der Digitale Zwilling bei der Erreichung von Nachhaltigkeitszielen spielt und welche Hürden es bei der Nutzung des Digitalen Zwillings gibt, beschreibt Dr. Wolfgang Bock, Abteilungsleiter Industry 4.0 Transformation & Sustainability Consumer Products bei msg.

In der produzierenden Industrie wird der Digitale Zwilling bereits seit Jahren eingesetzt, auch der Einsatz beim Endverbraucher setzt sich zunehmend durch – etwa beim Zugriff auf Smart-Home-Komponenten aus einer App heraus. Welche Rolle kann er bei der Erreichung von Nachhaltigkeitszielen spielen?

Dr. Wolfgang Bock: Die größten Potenziale entfaltet der Digitale Zwilling dort, wo wir beginnen, ihn kollaborativ zu nutzen. Im Rahmen des CSRD-Reporting, das in der EU für viele, auch nicht börsennotierte Unternehmen ab 2025 Pflicht wird, müssen die Scope 1, 2 und 3 CO2e-Emissionen gemäß dem Greenhouse-Gas-Protocol ermittelt werden. Für Unternehmen ist es heute schon relativ einfach, die direkten Emissionen aus der Verbrennung von fossilen Energieträgern (Scope 1) und die indirekten Emissionen aus eingekaufter Energie, wie z.B. Strom oder Fernwärme (Scope 2) zu berechnen. Die Ermittlung der Scope 3 Emissionen ist jedoch schwieriger und wird nach acht Kategorien aufgegliedert:

  • Eingekaufte Güter und Dienstleistungen
  • Kapitalgüter
  • Brennstoff- und energiebezogene Emissionen (nicht in Scope 1 oder 2 enthalten)
  • Transport und Verteilung (vorgelagert)
  • Abfall
  • Geschäftsreisen
  • Pendeln der Arbeitnehmer
  • Angemietete oder geleaste Sachanlagen

Im Falle der Kategorie „Eingekaufte Güter und Dienstleitungen“ muss man wissen, wie viel CO2-Emissionen bei den Produkten anfallen, die man von Lieferanten bezieht: „from cradle to gate“, also von der Rohstoffgewinnung bis zur Anlieferung ans Unternehmenstor. Bei komplexen Produkten mit mehrstufigen Lieferketten kommt dies der Quadratur des Kreises gleich. Eine Lösung des Problems bietet der interoperable Digitale Zwilling.

Wie kann das in der Praxis aussehen?

Dr. Wolfgang Bock: Im Rahmen einer gemeinsamen Initiative haben der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e.V. (VDMA) und der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektroindustrie e.V. (ZVEI) in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, die Industrial Digital Twin Association (IDTA) gegründet. Sie hat den Auftrag, ein Metamodell für den interoperablen Digitalen Zwilling (die sogenannte Asset Administration Shell, oder AAS) für die fertigende Industrie zu entwickeln. Diese AAS ist ein Digitaler Zwilling für Industrieprodukte. Die AAS enthält alle relevanten Informationen zu den zugehörigen physischen Assets, wie zum Beispiel ein digitales Typenschild, Informationen zur Identität des Assets, die Stückliste aller enthaltenen Komponenten und vieles mehr.

Wenn also Lieferant A ein Bauteil herstellt, wird parallel zum realen Asset auch ein Digitaler Zwilling dieses Bauteils erstellt. Dasselbe geschieht bei Lieferant B. Werden nun die Komponenten von A und B in einem Produkt verbaut, entsteht eine neue Asset Administration Shell, die auf die beiden Asset Administration Shells der Teilprodukte verweist. Damit hat man nun alle Daten zusammen, die das Asset betreffen. Dazu kann dann auch der Product-Carbon-Footprint (PCF) gehören. Das heißt, sobald ein Unternehmen ein Asset herstellt und dabei CO2e-Emissionen entstehen, wird diese Information in der Asset Administration Shell bzw. in den entsprechenden Submodellen hinterlegt und kann mit anderen Unternehmen entlang der Lieferkette ausgetauscht werden. Für das CSRD-Reporting könnten auf diese Weise sehr genaue Angaben für den geforderten PCF eines Produktes ermittelt werden. Gleiches gilt auch für die Recyclingfähigkeit der Komponenten eines Produktes.

Welche Hürden gibt es bei der Nutzung des Digitalen Zwillings entlang solcher Lieferketten?

Dr. Wolfgang Bock: Eine zentrale Herausforderung ist die Datensouveränität. Es reicht nicht aus, einen Standard für einen Digitalen Zwilling zur Verfügung zu stellen. Es muss auch ein Datenökosystem geschaffen werden, in dem klar geregelt ist, wer welche Daten in dieser Verwaltungsschale sehen darf und wer nicht. Und es muss möglich sein, auf Attributebene bestimmten Organisationen Zugriff zu gewähren. Nehmen wir als Beispiel einen Maschinenbauer, der seinem Kunden eine Anlage geliefert hat, für die er nun die Fernwartung durchführen soll. Der Kunde muss in seiner Asset Administration Shell dem Hersteller bestimmte Zugriffsrechte einräumen, damit dieser bestimmte Daten einsehen kann. Diese Zugriffsrechte müssen sehr präzise steuerbar sein. Ein Beispiel für ein solches Datenökosystem ist Catena-X in der Automobilindustrie.

Die Industrie unternimmt derzeit branchenübergreifend große Anstrengungen, um die Klimaziele der EU zu erreichen. Inwieweit wirken regulatorische Vorgaben als Treiber für die Adaption des Digitalen Zwillings?

Dr. Wolfgang Bock: Mit dem Inkrafttreten der CSRD kommen auch neue Berichtspflichten auf die Unternehmen zu. Im Falle der Taxonomie „Klimawandel“ erfolgt die Berichterstattung nach dem GHG-Protokoll. Sinnvoll wäre es, wenn alle Lieferanten in der Lieferkette die PCF-Werte ihrer Produkte mittels der interoperablen Digitalen Zwillinge an ihre Kunden übermitteln. Der OEM hätte dann eine Transparenz, bei welchen Produkten die Herstellung besonders CO2-intensiv ist. Ein anderes Beispiel ist die Taxonomie „Kreislaufwirtschaft“. Auch hier können interoperable Digitale Zwilling genutzt werden, um die Informationen entlang der Lieferkette zu transportieren. Denn auch hier müssen die Unternehmen im Rahmen der CSRD genauer angeben, ob die in ihren Produkten verbauten Teile recyclingfähig sind. Auch wenn es sich hier zunächst nur um Informationspflichten handelt, ist zu erwarten, dass das Gesetz dennoch eine Lenkungswirkung entfalten wird. Denn die eigentliche Intention des Gesetzes ist es, der Finanzwirtschaft bzw. den Ratingagenturen, die Unternehmen zunehmend auch unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten bewerten, eine quantifizierbare Datenbasis zu liefern. Insofern ist diese Art der Berichterstattung für kapitalmarktorientierte Unternehmen durchaus relevant. Gleichzeitig ist es für OEMs mit bis zu 20 Lieferantenstufen kaum möglich, die dafür notwendigen Informationen permanent aktuell zu halten. Der einzige Weg führt daher über die Lieferanten. Das heißt, sie geben den Druck an ihre Tier-1- und Tier-2-Lieferanten weiter, die ihn wiederum nach unten weitergeben. Die große Herausforderung ist, dass sich das dann durch die gesamte Lieferkette zieht. Und da sind wir wieder bei der Asset Administration Shell, die diese Informationen enthält und dem dazugehörigen Datenökosystem. Im Automobilbereich ist man mit Catena-X und der Asset Administration Shell als Datencontainer schon sehr weit. In anderen Branchen gibt es so etwas noch nicht.

Über das reine Reporting hinaus, welche Möglichkeiten bietet der Digitale Zwilling zum aktiven Management der Lieferketten?

Dr. Wolfgang Bock: Der Digitale Zwilling ermöglicht es uns nicht nur, die Welt, wie sie ist, besser zu verstehen. Er erlaubt uns auch, Zukunftsszenarien zu simulieren, um bessere Entscheidungen zu treffen. Nehmen wir zum Beispiel die Stückliste eines Autos: Bei fast allen komplexen Produkten ist klar, dass früher oder später ein Teil ausfällt oder ein Zulieferer fehlerhafte Teile produziert. Das Problem für die Hersteller ist heute, dass sie nicht genau wissen, welche Fahrzeuge von einer Rückrufaktion betroffen sind, weil ihnen die Information fehlt, in welchen Automobilen diese Teile verbaut sind. Hier kann ein Digitaler Zwilling, der die Stückliste enthält, Transparenz über die verbauten Komponenten schaffen. Zum anderen kann auf Basis vergangener Schadensfälle das Risiko zukünftiger Ausfälle bei bestimmten Lieferanten ermittelt und die Sourcing-Strategie entsprechend angepasst werden, z.B. durch den Austausch von Lieferanten oder den Aufbau einer breiteren Lieferantenbasis für besonders gefährdete Bauteile.

Werden wir in Zukunft Digitale Zwillinge sehen, die nicht nur Unternehmen, sondern auch Konsumenten im Alltag helfen, sich nachhaltiger zu verhalten?

Dr. Wolfgang Bock: Eigentlich sind wir davon nicht mehr so weit davon entfernt. Einige Firmen berechnen ja schon jetzt den PCF ihrer Produkte. Leider gibt es momentan noch verschiedene Definitionen. Wenn man sich hier auf eine eindeutige Definition geeinigt hat, spricht nichts dagegen, den Wert auch den Konsumenten anzuzeigen. Der PCF wird dann neben dem Preis und der Qualität eine Kaufentscheidung beeinflussen. Ferner ist auch denkbar, dass über den Digitalen Zwilling von jedem Lieferanten in der Wertschöpfungskette Zertifikate bereitgestellt werden, die belegen, dass es bei der Produktion nicht zu Menschenrechtsverletzungen oder Umweltzerstörungen gekommen ist.

Im Interview

 wolfgang bock msg

Dr. Wolfgang Bock

wolfgang.bock@msg.group

KeyVisual Folge 2 msg Podcast

Mehr zum Thema Digitaler Zwilling erfahren Sie in der Folge „Twin Worlds“ von radikal digital – dem msg-Podcast.

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