Karsten Redenius, Vorstand der msg Gruppe, über die Rolle von Kultur und Technologie bei Strategieprozessen und das Ende des Absolutheitsanspruchs der Lean-Philosophie.
Herr Redenius, die Rahmenbedingungen strategischer Entscheidungen haben dramatisch an Stabilität verloren. Was bedeutet diese Zukunftsoffenheit für den Strategieprozess und die Art, wie Entscheidungen zustande kommen?
Die Dynamik von Strategieprozessen erfordert eine optimale Balance zwischen Partizipation und Entscheidungsstärke. Man muss in der Bearbeitung der Strategie breit und offen denken und Impulse, Austausch und Beratung zulassen und einfordern. Aber man muss auch in der Lage sein, schnell und präzise zu entscheiden, die Explorationsphasen immer wieder mit klaren Zwischenentscheidungen abzuschließen. Und dieses, ich sage mal, Wellenmuster, gilt es zu etablieren. So können einerseits Offenheit, Flexibilität Commitment und Perspektivenvielfalt ihre Wirkung entfalten.
Gleichzeitig bleibt die Schlagkraft von Managementprozessen erhalten und man verhindert, dass die Organisation sich zu viel mit sich selbst beschäftigt. Denn Partizipation bedeutet ja nicht, dass sich in der Organisation jeder zu jedem Thema äußern und auch gehört werden muss. Die Idee der Partizipation darf sich nicht verselbständigen, und sowohl die Organisation als auch kreatives inhaltliches Arbeiten lähmen. In Unternehmen, in denen Vorstandsentscheidungen lediglich als Handlungsempfehlungen und Einladung zur Diskussion wahrgenommen werden, läuft etwas falsch.
Gibt es bestimmte Werte oder Kulturelemente, die ein solches strategisches Denken als Fundament erfordert?
Damit Diversität, Partizipation und eine positive Bewertung von Ungewissheiten greifen können, brauchen sie einen angemessenen kulturellen Rahmen, der in vielen Unternehmen nach wie vor nicht gesetzt ist. Was sich beispielsweise in einem stark kostenorientierten Managementdenken äußern kann. Eine nachhaltige Unternehmensentwicklung erfordert aber ein ertrags- und umsatzorientiertes, fehlertolerantes Denken und Handeln. Je mehr eine Organisation lernt, Fehler zu ertragen und Störungen zu heilen, desto besser geht sie irgendwann damit um. Sie wird resilienter, sie entscheidet schneller. Das schafft den Raum für moderne Strategieprozesse, die auf Offenheit, Beschleunigung, Entscheidungsstärke und permanente Anpassung setzen. Und eben nicht darauf, einen Plan, der vor fünf Jahren entstanden ist, bis ins Letzte buchstabengetreu zu verfolgen. Diese Haltung, diese Kultur in die Organisation reinzubringen, ist eine zentrale Managementaufgabe.
In den letzten Jahrzehnten war die Reduktion der Ressourcenverschwendung, ein absoluter Imperativ. Denkt man das, was Sie beschreiben, weiter, so entsteht der Eindruck, dass man in Zukunft bei strategischen Themen und im Hinblick auf die Resilienz der Organisation, gezielte Ressourcenüberschüsse und Puffer zulassen muss. Erleben wir das Ende der Lean-Philosophie?
Zumindest das Ende ihres Absolutheitsanspruchs. Ressourcen im Sinne von Kapazität einzusparen – daran glaube ich nicht mehr. Die Kapazität ist knapp und wird zunehmend knapper. Wir müssen den Fokus deshalb viel stärker darauf legen, die richtigen Handlungsfelder und die richtigen Räume und Märkte zu identifizieren, und sie mit den Menschen und den Lösungen, die man hat, zu adressieren. Die Zeit, die man aufwendet, um das letzte Quäntchen Effizienz herauszupressen, ist um Größenordnungen besser investiert in die Identifikation von Spielräumen und das Enabling der Talente, die diese Spielräume gestalten können.
Wie stark prägen datenbasierte Technologien strategische Entscheidungsprozesse – gerade, wenn es um das Erkennen von Spielräumen und die Analyse von Umfeldfaktoren geht?
Ich glaube, dass sich mit Data Analytics und Künstlicher Intelligenz einerseits die Umfeldbewertung massiv beschleunigen und präzisieren lässt. Und andererseits können Entscheidungen stärker durch Dateninputs fundiert und validiert werden. Dabei kommt es stark darauf an, solche Tools nicht nur punktuell einzusetzen, sondern sie systematisch in die Strategiearbeit zu integrieren. Viele wichtige Informationen, die für die Strategieentwicklung gebraucht werden, existieren ja eigentlich im Umfeld der Organisationen – man ist nur nicht in der Lage, sie zu erkennen, hereinzuholen und für Entscheidungen nutzbar zu machen. Technologien können dabei helfen, das zu ändern.
Dass wir von Dingen überrascht werden, die rückwirkend betrachtet auf der Hand lagen, erleben wir immer wieder. Man hätte vieles wissen können, wenn man dazu bereit gewesen wäre. Lässt sich diesem Bias mit dem systematischen Umfeld-Tracking durch KI entgegenwirken?
Ja. Zum Beispiel haben viele Unternehmen erleben müssen, dass ein langjähriger Partner plötzlich das eigene Geschäft attackiert. Nur ist es oft gar nicht so plötzlich. Aber durch persönliche Beziehungen, oder bestimmte Vorstellungen, die man gepflegt hat, hat man die Zeichen nicht gesehen. Und da kann eine assistierende Technologie durchaus helfen, dieses Bias auszugleichen. Aber die Vorstellung einer im Strategieprozess mitlaufenden KI ist heute in den meisten Organisationen noch nicht verankert. Auch das erfordert einen tiefgreifenden kulturellen Wandel.
Jean-François Lyotard sprach davon, dass „es notwendig ist, dass etwas geschieht. Aber das, was geschieht ist niemals notwendig“. Ist es das, um was es geht? Müssen dafür in Organisationen Räume geschaffen und kulturell abgesichert werden?
Ja. Und in vielen Organisationen bedarf es eines tiefgreifenden Wandels, damit eine offene Herangehensweise in einem Projekt akzeptierbar wird: ein Projekt auch mal aufzusetzen, mit Ressourcen auszustatten, vorzubereiten, von dem man noch gar nicht genau weiß, welchen Inhalt es am Ende produzieren muss. Es braucht die Fähigkeit, entlang einer nur in wesentlichen Grundzügen umrissenen Route immer wieder diese Räume zu schaffen, um auf Dinge reagieren und sich darauf vorbereiten zu können, dass da etwas passiert. Weil, dass etwas passiert, die Störgrößen, die kann man mit einer entsprechenden Sensorik antizipieren. Das macht Resilienz aus, sowohl der Organisation als auch der Strategie. Und dazu gehört extrem viel Vertrauen in die Organisation, große Gestaltungsfreiräume, Fehlertoleranz und Kreativität.
Im Interview
Karsten Redenius
"Die Idee der Partizipation darf sich nicht verselbständigen, und sowohl die Organisation als auch kreatives inhaltliches Arbeiten lähmen."
"Nachhaltige Unternehmensentwicklung erfordert ein ertrags- und umsatzorientiertes, fehlertolerantes Denken und Handeln."
"Die Zeit, die man aufwendet, um das letzte Quäntchen Effizienz herauszupressen, ist um Größenordnungen besser investiert in die Identifikation von Spielräumen und das Enabling der Talente."
"Die Vorstellung einer im Strategieprozess mitlaufenden KI ist heute in den meisten Organisationen noch nicht verankert."
"Es bedarf eines tiefgreifenden Wandels, damit eine offene Herangehensweise in einem Projekt akzeptierbar wird."
Mehr zum Thema "Strategische Planung" erfahren Sie in der Folge „Strategy Resilience“ von radikal digital – dem msg-Podcast.
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