Karsten Redenius, Vorstand der msg Gruppe, über die Unmöglichkeit strategischer Planung, den Umgang mit Ungewissheit und die Balance zwischen Stabilität und Flexibilität in der Unternehmensentwicklung.
Herr Redenius, Strategie und Planung wurden lange fast synonym verwendet. Doch Planbarkeit scheint zu einem zunehmend unwahrscheinlichen Zustand zu werden. Was bedeutet das für die Entwicklung von Strategien?
Die Planbarkeit nimmt in der Tat dramatisch ab. Die Strategie muss deshalb einerseits darauf ausgerichtet sein, dem Unternehmen die wesentlichen Ziele, die Vision, zu zeigen. Und andererseits darauf, die Organisation zu befähigen, dieser Vision bestmöglich zu folgen.
Wir können den Strategieprozess nicht mehr als den sprichwörtlichen Fünfjahresplan denken, mit einem festen Zielpunkt und einer inhaltlich, strukturell und prozessual genau fixierten Wegstrecke, die man Abschnitt für Abschnitt linear abarbeitet. Deshalb kann die Strategieentwicklung auch keine Managementaufgabe im klassischen Sinn mehr sein. Es ist die Aufgabe des gesamten Unternehmens und muss auch das ganze Unternehmen befähigen, zu verstehen, wo man hinwill, damit auf allen Ebenen die richtigen Wege eingeschlagen werden können. Und das ist eine ganz andere Art und Weise, mit einem strategischen Zielbild umzugehen, als man das in der Vergangenheit getan hat.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Nehmen wir die Reaktionsfähigkeit auf Veränderungen im Umfeld. Das Managementteam kann heute nicht über die Kapazität verfügen, alle relevanten Signale frühzeitig zu erkennen, diese zu interpretieren und zu priorisieren. Deshalb brauchen Organisationen eine verzweigte Sensorik. Anders formuliert: Vielfältige Impulsgeber, die genau verstehen, was in einem bestimmten Bereich des Ökosystems und des Umfeldes passiert und wie das Unternehmen darauf reagieren sollte. Das können diese Menschen aber nur dann, wenn sie verstehen, wo die Reise hingeht und was die strategische Gesamtausrichtung ist, ohne penibel einem detaillierten inhaltlichen Plan folgen zu müssen.
Sie erwähnten vorher den Fünfjahresplan als eine Metapher für das alte, statische Strategieverständnis. Welchen Anspruch kann man denn heute an die Stabilität von Strategien noch haben? Es kann ja nicht alles unter dem Primat der Flexibilität stehen?
Ich glaube, Strategie muss sehr klar auf einen Nordstern ausgerichtet sein, der als stabile Orientierungshilfe dient und die generelle Richtung aufzeigt. Hieran kann sich alles ausrichten und sich auch ein Stück weit nach links oder rechts biegen. So wie das Umfeld es erfordert.
Statische, auf detaillierte Milestones setzende Strategien sind kein zielführender Ansatz mehr. Was wir derzeit im strategischen Denken erleben, ist die Spannung zwischen einer Denkweise, die über Jahrzehnte erfolgreich war und einer deutlich agileren Welt, der man auch agil begegnen und sich flexibel an Umfeld und Markterfordernisse anpassen muss.
Was bedeutet das für die einzelnen strategischen Prozesse und Initiativen im Unternehmen?
Sie alle müssen dem Nordstern folgen, um im Bild zu bleiben. Nur so kann es gelingen, die unterschiedlichen strategischen Ebenen im Unternehmen zu verknüpfen, um Synergien zu heben und effizient, reaktionsschnell und schlagkräftig zu sein. Nicht synchronisierte Prozesse, die unabhängig voneinander auf den Nordstern zulaufen, können das nicht leisten.
Wenn man das Unternehmen beispielsweise auf Plattformen und Ökosysteme, also skalierungsfähiges Geschäft, ausrichtet, gilt es diesen Kern scharf herauszuarbeiten, ohne ihn dabei mit Details zu überfrachten. Zu der daraus abgeleiteten Strategie müssen unterschiedliche Bereiche beitragen, mit unterschiedlichen Inputs und zu unterschiedlichen Zeitpunkten.
Um das zu gewährleisten, müssen Strukturen sowohl über Flexibilität als auch über Stabilität verfügen. Die Stabilität ist notwendig, damit die Dinge nicht in eine völlig falsche Richtung laufen, oder sich von der Ausrichtung am Nordstern abkoppeln. Gleichzeitig muss aber die gesamte Struktur flexibel und dezentral bleiben. Denn welche Ressourcen und Ansätze sich als geeignet erweisen, um die Inputs zu gestalten, mit welchen Veränderungen im Umfeld man in ein, zwei Jahren umgehen muss – das lässt sich nicht zentral und detailliert planen.
Folgt aus dieser Sicht nicht zwangsläufig, dass die Organisation deutlich mehr Ungewissheit aushalten muss? Wie können Unternehmen damit umgehen?
Ich glaube, in der Organisation braucht es eine klare Lösung, wo und wie Exploitation und wo und wie Exploration stattfinden soll. Dann lässt sich Ungewissheit – ich würde aber eher von Unplanbarkeit sprechen – auch als eine produktive Ressource nutzen. In Organisationen neigt man häufig dazu, Ungewissheiten stark negativ zu belegen. Dabei stecken darin immer auch Gestaltungsmöglichkeiten und Freiheitsgrade. Wenn man diese gegriffen und aktiviert bekommt, dann hat man da einen Riesenschritt nach vorne getan.
Gerade Traditionsunternehmen werden teilweise von einem Managementstil und ein Strategieverständnis dominiert vor, der diese positive Umwertung der Ungewissheit, der wir nun mal nicht entkommen können, erschwert. Man begegnet der Umfelddynamik dann nach wie vor mit komplexen Planungsverfahren, Eindeutigkeiten und schafft es nicht, andere Perspektiven einzunehmen.
Wie wichtig ist im Sinne dieser verschiedenen Perspektiven die Diversität im Führungskreis?
Sehr wichtig. Es ist inzwischen auch wissenschaftlich eindeutig belegt, dass divers besetzte Führungsgremien auf lange Sicht betrachtet bessere, nachhaltigere Entscheidungen treffen. Weil verschiedene Perspektiven zu viel intensiverer Auseinandersetzung mit einem Thema führen. Damit steigt die Entscheidungsqualität auf jeder Ebene der Organisation.
Ein weiterer Faktor dabei ist, dass die Zusammenarbeit und das Zusammenwirken in vielfacher Hinsicht enger werden. Das gilt für neu entstehende Ökosysteme, für integrierte Wertschöpfungsketten, für das Verhältnis zwischen Kunden und Produzenten, oder für das Miteinander mit unterschiedlichen Stakeholdern. Diese vielfältigen Blickwinkel, Interessen und Strategien müssen verstanden und in den eigenen Entscheidungsprozessen angemessen reflektiert werden.
Im Interview
Karsten Redenius
"Strategieentwicklung kann keine Managementaufgabe im klassischen Sinn mehr sein. Es ist die Aufgabe des gesamten Unternehmens."
"Wir erleben die Spannung zwischen einer Denkweise, die über Jahrzehnte erfolgreich war und einer deutlich agileren Welt, der man auch agil begegnen muss."
"Diversität und verschiedene Perspektiven verbessern die Entscheidungsqualität auf jeder Ebene der Organisation."
Mehr zum Thema "Strategische Planung" erfahren Sie in der Folge „Strategy Resilience“ von radikal digital – dem msg-Podcast.
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